Pfarrerin Birgit Reiche sprach zu einem Thema, das immer noch häufig als Frauensache angesehen wird. Foto: Negel-Täuber
Zitat:
„Gesellschaftliche Lösungen sind nötig.“ (Birgit Reiche, Pfarrerin der Frauenhilfe in Westfalen)
Das Interesse der Landfrauen war groß, denn igendwann braucht jeder Unterstützung. Foto: Negel-Täuber
ein Bericht von Birgitta Negel-Täuber
Wahrscheinlich gibt es sie auch in Kierspe, „die 24-Stunden-Polin“. Der Begriff umreisst prägnant Herkunft und Arbeitsumfang der Frauen, die in Privathaushalten die Pflege und Betreuung alter
Menschen übernehmen. Er war auch auch titelgebend für den Vortrag, den Pfarrerin Birgit Reiche in der Sparkasse vor Kiersper und Rönsahler Landfrauen hielt. Die Theologin ist für die evangelische
Frauenhilfe in Westfalen tätig und hat damit auch die Belange derer im Auge, die Altenpflege benötigen und ausüben.
Das sind im privaten Bereich fast ausschließlich Frauen. In 3,5 bis 4 Millionen deutschen Haushalten arbeiten Frauen und erledigen dort all die Aufgaben, die schon immer als Frauensache angesehen
wurden: Putzen, Kochen, Bügeln, Kindererziehung und die Pflege der alten und kranken Angehörigen. Als „Comeback des Dienstmädchens“ bezeichnete Reiche diese Entwicklung, die in den letzten 20
Jahren deutlich zugenommen habe. Die Beschäftigten – von der Putzfrau, die stundenweise kommt bis zur Angestellten, die im Haus wohnt – hätten ganz überwiegend einen Migrationshintergrund; auch
Rentnerinnen verdienen sich auf diese Weise etwas dazu. Die Vorteile liegen dabei für beide Seiten auf der Hand. Die einen erhalten die Hilfe, die es ihnen erlaubt, weiter berufstätig zu sein.
Die anderen verdienen ebenfalls und können damit ihre eigenen Familien unterstützen. Auch im persönlichen Miteinander klappt es oft gut, „die subjektive Zufriedenheit“ der Angestellten sei oft
hoch.
Also eine Win-Win-Situation? Das sieht Reiche nicht so, denn die Kollateralschäden sind hoch. Da ist zum einen der volkswirtschaftliche Schaden, rund 80 Prozent der beschäftigten Frauen arbeiten
schwarz. „Es gibt auf beiden Seiten kein Unrechtsbewusstsein.“ Das liegt wohl nicht zuletzt an den niedrigen Löhnen, die im Haushalt gezahlt werden. Eine Vollzeitkraft, vermittelt durch die
Bundesagentur für Arbeit, erhält 1700 Euro brutto. Besser stehen sich diejenigen, die über die Diakonie zu einem Arbeitsplatz finden. Dabei wechseln sich jeweils zwei bis drei Pflegerinnen ab,
die für mehrere Wochen oder Monate bei der Familie leben. Aber auch dieses Modell hat Tücken. Denn abgesehen von arbeitsrechtlichen Grauzonen – länger als 48 Stunden pro Woche darf niemand
beschäftigt werden – da sind auch noch die „Euro-Waisen“. So werden in Polen die Kinder genannt, deren Eltern in Europa arbeiten; sie sind besonders von Verwahrlosung bedroht.
Gesellschaftliche Lösungen seien nötig, forderte Reiche. Man dürfe das Recht der Alten in Deutschland nicht gegen die Bedürfnisse der Kinder in den Entsendeländern ausspielen. Zudem verschärfe
sich in manchen Ländern der Pflegenotstand, wenn ausgebildete Fachkräfte nach Deutschland abwandern.
Das Interesse am Vortrag war groß, untereinander diskutierten die Landfrauen lebhaft weiter und nahmen auch mögliche Lösungsansätze der Referentin in den Blick, ehrenamtliche
Nachbarschaftshilfe oder quartierbezogene Netzwerke.bnt